5. Die SPD nach 1890
Das Erfurter Programm
Nach
dem Sturz Bismarcks fiel das Sozialistengesetz.
1891 nannte sich die Partei „Sozialdemokratische
Partei Deutschlands“ (SPD). Sie reagierte auf die zunehmende
Verelendung des Proletariats und die zugespitzten Klassenverhältnisse im Reich
mit der Formulierung des Erfurter
Programms. Dieses Parteiprogramm vertrat
marxistische Positionen und forderte die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel als Grundvoraussetzung für di Befreiung des Proletariats.
In der
Folgezeit zerfiel die einheitliche Linie der Sozialdemokratie wieder. Eduard
Bernstein stellte die Prognosen von Marx und
Engels
zur weiteren Entwicklung der Industriegesellschaft in Frage und forderte eine Revision des Parteiprogrammes
, denn die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse habe sich nicht in
der vom „Kommunistischen
Manifest“ prognostizierten Weise vollzogen, die Katastrophentheorie
von Karl Marx
und Friedrich Engels
sei daher obsolet.
Weder
sei es zur Schrumpfung der Kapitalmagnaten noch des Mittelstandes gekommen.
Dank einer sich „immer kräftiger regenden Arbeiterbewegung“ würden die
politischen Einrichtungen der modernen Nationen immer mehr demokratisiert.
Wahlerfolge der Sozialdemokraten 1890, 1890
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Angesichts
der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und des Reifegrades der
Arbeiterklasse sei es weitaus erfolgversprechender, pragmatisch
„für das politische Recht der Arbeiter, auf die politische Betätigung der
Arbeiter in Stadt und Gemeinde für die Interessen ihrer Klasse, sowie auf das
Werk der wirtschaftlichen Organisation der Arbeiter den allergrößten Wert“ zu
legen.
Bernstein war infolgedessen der
Ansicht, dass die deutsche Sozialdemokratie keine Revolution anstreben müsse,
um ihre Ziele einer demokratischen Gesellschaft zu erreichen. Der Verlauf der
Geschichte und insbesondere das Wahlverhalten im Kaiserreich zeige, dass in Kürze
die Sozialdemokratie die Mehrheit im Reichstag mit dem Stimmzettel erreiche und
damit ihre Ziele auf dem Wege der Reformen anstreben könne.
Portrait Eduard Bernsteins
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Der Aktionismus
Dem
Revisionismus Bernsteins
stand die Gegenposition des „Aktionismus“
gegenüber, der vor allem von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vertreten
wurde. Die „Aktionisten“ sagten eine baldige politische Revolution voraus, die
sie durch gezielte Einzelmaßnahmen wie z.B. politische Generalstreiks
entsprechend fördern wollten.
Rosa Luxemburg ...
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... und Karl Liebknecht
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Der Reformismus
Eine
dritte Richtung, der sogenannte „Reformismus“, wurde vom
Vorsitzenden der bayerischen SPD, Georg von Vollmar,
vertreten. In seinen „El Dorado“- Reden rechtfertigte Vollmar eine pragmatische
Ausrichtung mit dem Ziel, die SPD mit anderen Parteien, z.B. mit dem bayerischen
Zentrum, bündnisfähig zu machen.
Der Kompromisskurs Bebels
Die
Parteispitze unter August Bebel sah
sich angesichts dieser divergierenden Positionen veranlasst, einen
Kompromisskurs zu proklamieren, um eine Spaltung der Partei zu verhindern. „Die
SPD ist eine revolutionäre Partei, macht aber keine Revolution“ erklärte Bebel
und ermöglichte so den reformistischen Kräften, ihr Ziel, die Zusammenarbeit
mit bürgerlichen Parteien, durchzusetzen.
Bei den Reichstagswahlen 1912 ging die SPD ein Bündnis mit den
Linksliberalen ein. In den Wahlkreisen, in denen eine Stichwahl erforderlich
war, einigten sich die Parteien auf einen gemeinsamen Kandidaten. Dadurch
erreichte die SPD nicht nur wie schon 1890 die meisten Stimmen, sondern errang
nun auch die meisten Mandate (34,8% der Stimmen bei 84,2 % Wahlbeteiligung).
Die SPD wird stärkste Partei und Reichstagsfraktion
Im
Jahre 1914 zählte die SPD mehr als 1 Million Mitglieder, und übertraf damit
jede andere Partei in Deutschland. Die meisten Anhänger der SPD rekrutierten
sich weiterhin aus der industriellen Arbeiterschicht, jedoch nahm sie auch
zunehmend auf den Mittelstand Einfluss.
Georg von Vollmar
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Die SPD unterhielt zur Zeit des Kaiserreiches ein dichtes Organisationsnetz von Vereinen und prägte somit das soziokulturelle Milieu ihrer Anhänger und der Arbeiterschaft im Gesamten.
Noch vor dem ersten Weltkrieg entwickelte sich im Parlament eine Zusammenarbeit zwischen SPD und den bürgerlichen Mitte-Links-Parteien, diese Koalitionen waren jedoch nur die weiterreichenden Ausläufer dessen, was zuvor bereits auf regionaler Ebene geschehen war. Die führenden Kräfte des Reiches und auch der Großteil des Bürgertums betrachteten den rapiden Aufstieg der Sozialdemokraten mit wachsender Furcht und steigendem Misstrauen.
Die Rolle August Bebels
Der
Historiker Michael Stürmer beurteilte die überragende Rolle des
Parteivorsitzenden August Bebel wie folgt: „Bebel
wurde im Reichstag der große Widerpart der gesamten bürgerlichen Rednerliste,
von Eugen Richter beim
Fortschritt bis zu Heydebrand
bei den Konservativen. Er formulierte die Rechenschaftsberichte der Fraktion.
Er konnte Partei-Karrieren machen oder verhindern. Alles stärkte seine Macht
über die Partei, Charisma war im Spiel, das ihn zugleich in Utopie trieb und in
Polemik. Die Partei führte Bebel als Massenbewegung vom marxistischen Zentrum
aus. Ihre Parteitage dienten mehr der Akklamation der Führung als deren
Rechtfertigung. Die Partei der Außenseiter wurde Staat im Staat, und Bebel riss
Gräben auf, wo immer sie sich aufreißen ließen, schuf Trennungen zu Liberalen
und Christen, wo immer möglich. So hat Bebel das flache Spätaufklärertum der
Arbeiterbildungsvereine zugespitzt zu einem Prinzipienkampf gegen Religion und
Kirchen. Er fürchtete deren soziales Engagement. In der katholischen
Soziallehre und der evangelischen Sozialethik sah er nicht die Chance der
Versöhnung, sondern die Bedrohung der Organisation. So musste die Sozialdemokratie kämpferisch und
kompromisslos sein im Kampf um die Seelen und Gegenkirche werden.
Damit
aber hat Bebel, der mehr auf die Ratio setzte als auf das Gemüt, die Partei
ideologisch und sozial eingemauert und die Mehrheitschance auf lange Zeit
verspielt. Aber Bebel war zu sehr ein Gegen-Bismarck, um Kompromisse zu
formulieren, wenn sie sich vermeiden ließen. Zuspitzung, Polemik, scharfe
Grenzen: das waren die Mittel seines Charisma. Dazu die Vermeidung jener
politischen Reformen, die zwischen Fernziele und Gegenwart vermitteln konnten. [...]
August Bebel
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Er
war ein kleiner, drahtiger und zart wirkender Mann, eher leidenschaftlich als
vergeistigt. Von grober Schimpfe bis zur haarspaltender Genauigkeit stand ihm
jedes Register zur Verfügung. Die Schwächen seiner Gegner kannte er besser als
ihre Stärken. Wenn er im Reichstag sprach, so fand er, je älter er wurde, viel
Respekt selbst unter seinen zahlreichen Gegnern. Redete er auf öffentlichen
Plätzen, so wurden die Kinder hochgehalten. Kam er in eine Arbeiterstadt, so
herrschte Geburtstagsstimmung. Als er 1913 starb, war er längst eine
historische Gestalt geworden, ein Führer mit Legende.
Führer
aber, so ist zu fragen, wohin? Vielleicht besaß er eine Vision eines Landes der
Freiheit und Gerechtigkeit. Aber wie aus dem Hier und Heute, dem Bebel den
Krieg erklärt hatte, jenes Traumland zu erreichen wäre, gab er niemals preis.
Die Diskussion darüber unterblieb oder fand nur in Form der
Revisionismusdebatte statt. Bebel war zu mächtig und zu klug, als dass er die Stellung des
Volkstribunen durch operatives Abwägen kompromittieren wollte. Ob er sich ein
anderes Deutschland jenseits des Kaiserreichs vorstellen konnte? Gewiss ist,
dass er am Ende seines Lebens umgetrieben wurde von der Ahnung künftiger
Vernichtungskriege. Seine Warnungen davor und seine dem Landesverrat eng
verwandte Informationsvermittlung an das Foreign Office ..... hatten ethische
Qualität. Das aber war 1912 und 1913 im Blick auf den Ernstfall getan, nicht
den altgewohnten der linken Rhetorik, sondern den modernen des industriellen
Krieges. Sonst
aber? Die visionäre Rhetorik gehörte zu den Voraussetzungen seiner
Machtstellung, nicht anders als die Sachkompetenz im Reichstag und das
Meinungsmonopol in der Partei. Gesinnungsethik und Machtinstinkt des
Volksführers prägten ihn. Die Verantwortungsethik des Staatsmannes blieb ihm
versagt. Die deutsche Sozialdemokratie der Jahrhundertwende und noch lange
danach aber blieb in ihrer reformerischen Praxis wie in ihrem politischen
Versagen die Partei August Bebels.“
Michael Stürmer, Das ruhelose Reich, Berlin 1994, S. 305f
Text: Tobias Eder
Literatur und Internetressourcen:
www.SPD.de - Geschichte
www.dhm.de/lemo - Innenpolitik im Kaiserreich)
Volker Berghahn, Das Kaiserreich 1871-1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat. Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Auflage, Band 16; Stuttgart 2003; S. 305-332;
Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918; Berlin 1994
K.D. Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Auflage, Stuttgart 1973
Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933; Berlin 1982
Walter Tormin (Hrsg.), Die Weimarer Republik; Hannover 1973
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